"Das Holstentor in Lübeck gehört zu denjenigen Baudenkmälern des Mittelalters, die, nur durch das Zeitbedürfnis hervorgebracht, mit einem späteren Kulturzustand und anderen Zeitbedürfnissen derart in Konflikt kommen, dass sie allein durch eine kräftige Pietät vor der Zerstörung bewahrt bleiben können. Mancher Leser wird sich erinnern, dass das Holstentor vor einigen Jahren vornehmlich in Folge einer Gegenvorstellung der Versammlung deutscher Altertumsforscher in Ulm der Gefahr der Abtragung entgangen ist.
Das Holstentor besteht aus zwei runden, mit hohen Dachpyramiden bedeckten Türmen, die durch ein viereckiges Mittelgebäude so verbunden sind, dass dieses mit ihnen ein gemeinsames Langrund bildet.
Über einem kräftigen Unterbau, durch welchen die halbkreisrunden, wenig überhöhten Toröffnungen geführt sind, erheben sich drei Stockwerke, derart mit Mauerblenden und Fenstern besetzt, dass fast
kein Mauerraum zwischen denselben gelassen ist, was dem Gebäude das Ansehen eines antiken Amphitheaters gibt. Die Form derselben ist großenteils spitzbogig, mehr oder weniger schmal, ohne andere
Profilierung, als die einer rechtwinkligen Abstufung. Nur im obersten Stockwerk der Türme sind die Fenster halbkreisrund abgeschlossen. Der viereckige Mittelbau endet mit einem Giebel, daran drei
dreiseitige Wandpfeiler aufsteigen mit halbkreisrund geschlossenen Fenstern und Blenden zwischen sich. Das Ganze ist aus verschieden gebrannten Backsteinen aufgeführt und was an Ornamenten sich
vorfindet, ist durch die verschiedenen Lagen der Backsteine oder auch durch einzelne Formenstücke hervorgebracht.
Die Glanzseite des Tors, die unsere Bildtafel wiedergibt, ist der Stadt zugekehrt und steht der über die Trave führenden Brücke nahe gegenüber. Hinter dem Holstentor zieht sich der Wall hin,
ehedem mit ihm durch niedrige Mauern verbunden und 1585 mit einem großen Tor versehen, das zur besseren Sicherheit gegen feindliches Geschütz einen stumpfwinkligen Durchgang hatte und das 1850
auf Veranlassung des Eisenbahnbaus abgebrochen wurde. Das letztere Schicksal hatte auch ein drittes entferntes Tor vor der Brücke über den Stadtgraben betroffen, sodass in der Tat nur das
Holstentor bis jetzt den Kampf um die Existenz siegreich bestanden hat.
Auf den ersten Anblick sieht das Holstentor älter aus, als es ist. Man ist versucht, seinen Aufbau ins 14. Jahrhundert zu verlegen. Wir werden durch die Nachricht von der Erbauung, die sich in
der Chronik des Franziskaners Lesemeister, herausgegeben von Dr. Fr. H. Grautoff T. II. S. 400 befindet, eines Besseren belehrt. Dort heißt es zum Jahr 1477: "Item by dessen tiden do ward
vullenbracht das holstendor na willen unde schunisse der erwerdigen heren, her hinrik castorp, her hinrik van stiten unde her ludeke van tunen, borgermestern, de mit eren mederadkumpanen mit
synneger vorsichticheyt anzogen nicht allenen, wat jegenwardich was, men ok wat schen michte in tokomenen tiden, unde besorgende de kynde, de do noch weren ungeboren, unde deden na der lere
vegetii in sineme boke van der ridderleken ovynge, das he sprikt, in der tid des vredes so schal me denken up orlege unde anstande veyde." (...)
Eine andere Nachricht befindet sich in einer handschriftlichen Beschreibung der Stadt Lübeck von Jacob von Melle, Senior und Hauptpastor an St. Marien aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
und lautet:
"Gegen Westen ist das Holstentor, wodurch man über die Trave in das Herzogtum Holstein reitet. Dieses Tor samt der Brücke ist anno 1376 erneuert worden, da mittlerweile vor der Backergrube eine
Schiffbrücke gelegen, über welche man gehen und fahren könne und hat die Arbeit fast ein Jahr gewährt. Hundert Jahr danach, nämlich anno 1477 hat man das Tor am Ende der Brücke mit den beiden
runden Türmen aus des damals verstorbenen Bürgermeisters, Herrn Anderas Gewerdes, Gütern aufgerichtet. Das folgende große Tor ist anno 1585 erbaut, auch anno 1710 erneuert und mit goldenen
Buchstaben daran geschrieben worden: Domi concordia et foris pax altissimi und ist dasselbe anno 1695 renoviert, wie auch anno 1684 das Ravelin vor der Brücke verfertigt worden."
Quelle: Denkmale deutscher Baukunst, Bildnerei und Malerei von Einführung ..., Band 9