Die Drei Gleichen

„Hinter den Waldungen sank hinab der scheidenden Sonne
Schwinnnendes Gold, und heiter entstieg im Rosengewande
Einer bestrahlten Wolke der Abend dem tauenden Himmel.
Hesperus funkelte fern üb den Burgruinen der Gleichen.“

Wanderungen durch Thüringen von Bechstein, Ludwig
Historische Zeichnung von der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Hintergrund die Drei Gleichen.

Ausschnitt aus: Wanderungen durch Thüringen: Mit 30 Stahlstichen von Ludwig Bechstein, Leipzig 1838.

Die Geschichte der Wanderung der drei Herren können Sie im Ausflugsartikel der Wachsenburg nachlesen.

 

Nach Mühlberg ging es nun mehr kletternd, als auf gebahntem Wege wandelnd, um eine besonders schöne, auch sagenbekränzte Quelle dieses Ortes in Augenschein zu nehmen, den Spring, dessen Nymphe aus voller Urne Segen dem Ort zuströmen lässt. Man schaut auf einen tiefen goldgrünen Grund; sieht, wie Münzen oder Steine auf unsichtbar empor quellender Flut geschaukelt, langsam und alsbald grün-glänzend zu Boden sinken und unter Konferven [Fadenalgen] verschwinden, die wie Nixenhaar sich auf- und abwärts sanft bewegen. Wenn man lange hinabschaut, ist es, als blicke man der deutschen Sagenpoesie in das sehnsüchtige Auge, in das melancholische Herz.


Rasch trug der Wagen hierauf die Freunde nach Freudenthal. Mit aufmerksamem Auge beobachtete Wagner während der Fahrt die Situation der Schwesterburgen, bis er einen passenden Punkt gefunden zu haben glaubte, sie zu zeichnen. Er wählte ihn mitten in der Feldflur, durch welche in ziemlicher Krümmung der Weg leitete, und belebte aus eigener Fantasie das leere Feld des Vorgrundes mit einer Jagdszene. Er, der Maler, liebte es, den Bildern aus alter Zeit, gleichsam symbolisch, herbstliche Staffagen zu geben, oder der idealen Färbung, die Otto durch das bunte Glas der Poesie und Sage an den Landschaftsbildern erblicken wollte, eine materielle, durch Darstellung ergiebiger Obsternten, Jagden, oder Herden — selbst Wurst und Schinken verheißender Schweine — einen Gegensatz aufzudrücken, woran Lenz sich höchlich ergötzte, und wodurch manch heiteres, gegenseitig neckendes Gespräch veranlasst wurde.


Im Forsthaus Freudenthal, das zugleich mit leiblichen Erquickungen oft einsprechende Fremde zu bewirten imstande ist, und an die Stelle einer ehemaligen zur Burg gehörenden Kemnate erbaut wurde, fanden die Reisenden solcher Fremden eine große Anzahl, und es schien deren Anwesenheit auf etwas Besonderes hinzudeuten. Von allen Seiten kamen sie an, zu Wagen und zu Fuße, doch führte Otto nun seine Gefährten aus dem lauten Gedränge bergempor. Bald sahen sie hohes und starres Gemäuer den Bergscheitel rings umziehend vor sich aufragen, die Torflügel knarrten in rostigen Angeln, und der grüne Rasen des Burghofes lachte in sonniger Helle die Wanderer an. Der Führer hatte Sorge getragen, dass dieser zum „Tischlein decke dich“ des Märchens wurde; man gedachte in behaglicher Ruhe hier oben zu schmausen, und lagerte an schattiger Stelle, wohlgeborgen vor der Mittagssonnenglut.


„Dies ist denn nun,“ sprach Otto: „die romantische Burg Gleichen, hier lebte und hier liebte jener sagenhafte ritterliche Held, dessen Abenteuer und Erlebnis Dichter begeisterte, Kritiker entzweite, Forscher anregte, und dieser alten Veste Berühmtheit bis zum fernen Auslände verheb, ja über sie und die Sage selbst eine so bändereiche Literatur hervorrief, wie wohl wenige deutsche Burgen sich zu erfreuen haben.“


„Fürwahr,“ unterbrach Lenz: „es wird sich die bekannte Sage recht gut noch einmal vernehmen lassen hier auf der sommerluftigen Höhe, am Schauplatz der Historie. Ich sehe dort über der Türe wahrhaftig noch den gelöwten Leoparden aus dem Wappenschild seine Pranken gegen uns ausstrecken, und uns mit vollem Gesicht anfletschen, dessen Musäus in seiner beliebten Darstellung der Sage erwähnt. Hätte mir, dem damals das Märchen Verschlingenden, nie träumen lassen, in spätem gesetzten Jahren da zu lagern, wo Melechsala wandelte.“
„Immer am liebsten lasse ich mir,“ erwiderte ihm Otto: „an der Stelle, wo Erzähltes sich zutrug, das Geschehene berichten, Traditionen zumal; solche Orte umweht mit stets jungem Flügelschlag die Poesie.“ Dann eingriffen von der Vergangenheit, sie als Gegenwart denkend, gleichsam rhapsodisch, halb in sich gekehrt, halb den Blick über die Mauertrümmer hinweg, dem blauen Himmel zugewandt, fuhr er fort zu sprechen, während in der Taltiefe, bald sanft, bald lauter, volltönender, harmonischer Gesang, ordentlich wie begleitend, in kurzen Pausen, sich vernehmen ließ.


„Herolde durchziehen und kaiserliche Boten das deutsche Land. Zum Kreuzeszug gen Palästina!, schallt das Gebot, welches den Heerbann zur Folge aufruft. Die Tore der Burgen, der Städte tun sich auf, die Fähnlein wehen, die Eisenharnische rasseln. Zum Thüringer Landgrafenlöwen gesellt sich der Gleichische Leopard. Aus liebend umstrickenden Armen der treuen Hausfrau reißt sich männlich und stark der edle Graf. Zur Wartburg dort drüben wallt der glänzende Zug; dort weint in des Gatten Armen Elisabeth, die Heilige, Tränen des Trennungsschmerzes. Lebe wohl, Vaterland! Deutsches Land! Europa — lebe wohl! Im fernen Süd-Osten wandelt, unter Afrikas glühender Sonne, das Kreuzfahrerheer. Da geht der Lebensstern des Thüringer Landgrafen unter; der fromme Ludwig stirbt in Brundus. Im Lande Ägypten beginnen die Kämpfe mit den tapferen Sarazenenhorden. Graf Ernst von Gleichen, eines Tages allzu weit aus dem gesicherten Lager sich entfernend, wird von einer streifenden Rotte nach tapferer Gegenwehr gefangen, und büßt in harten Fesseln zu Alkair den allzu verwegenen Mut. Den schönen Gefangenen erblickt mit Gärtnerarbeit beschäftigt, die Sultanstochter, und ihr Herz neigt sich mit zärtlicher Liebe ihm zu, teilnehmender Annäherung folgt ein süßes Bekenntnis, und schmerzlichen im Christentum bedingten Weigerungsgründen seinerseits die unbefangene Unbedenklichkeit der Bekennerin des Islam. Liebe weiß nichts von Dogmen — will nichts von solchen wissen, und Liebe braucht ihre siegreichen Überredungskünste; Hoffnung hilft bitten, Freiheit winkt dem, der sehnsüchtig ihrer harrte. Die Liebenden fliehen; ein Schiff trägt sie treuer, als jenes, das Hüon mit Rezia trug, nach Europas Küste, und williger, als der Papst Urban dem armen Tannhäuser verzieh, verzeiht Gregor der Große die Bigamie, denn es gilt, eine Seele dem Christenglauben zu gewinnen, die Sarazenin nimmt ihn willig an. Um alles dieses wird die Gräfin, die daheim den Gatten schmerzlich beweint und sich Witwe glaubt, freilich nicht gefragt; aber als sie nun von des Gatten Rückkehr hört, den Lauf der Geschicke vernimmt, fügt sie sich beruhigten Herzens in das Unvermeidliche, geht freudig der Befreierin des geliebten Gatten entgegen und umarmt sie als Schwester. Von diesem schmerzlichen Freudengange trägt noch heute jenes Haus am Bergesfuß den Namen Freudenthal; der Weg, den wir aufwärts gewandelt sind, heißt noch heute der Türkenweg, und im Dom zu Erfurt sahen wir bereits den alten Stein, der die Gebeine der innig Verbundenen deckte, ein stummer und doch beredter Sagenzeuge. Lange Jahre hindurch ward auch in der sogenannten Junkerkammer, einem Zimmer dieses öden, verfallenden, doch noch bedachten Baues, das dreischläfrige Bett gezeigt, das eine so seltene Liebe weihte; doch ward diese Reliquie, deren Splitter man als Antidot der Eifersucht pries, im Laufe der Zeit aufgerieben, anderer bewahrheitender Dokumente nicht zu gedenken!“ — Lenz hatte die Becher gefüllt, und mit den Freunden anklingend rief er: „Den hoffentlich noch vereinten Schatten dieser drei!“


Gern hätte Otto noch gegen die Gefährten jetzt Erwähnung getan der Geschichte der Burg, ihres hohen Alters, des weitverzweigten, reichen und angesehenen Geschlechts der Grafen von Gleichen, der Kriegshändel um die Burg, und ihres Verfalles; allein kaum damit begonnen habend, gewahrte er, dass der Hof sich mit lauten Lustwandlern füllte, mehr und mehr kamen der Waller jeden Geschlechtes und Alters fröhlich zu dem alten Burgtor herein gewimmelt, verbreiteten sich über den geräumigen Rasenteppich des Burghofes, überkletterten die Gemäuer, die deutlich ältesten Bau verkünden, krochen spähend betrachtend in die zahlreichen Keller hinab, lagerten sich am alten viereckigen Wartturm, wagten sich über morsches Treppengebälk in die oberen Stocke des überdachten neueren Hauses, deren Estrich an manchen Stellen bereits durchgebrochen, und begrüßten zutraulich die Fremdlinge. Jetzt schallte näher und näher vollstimmiger Männergesang im lebendigen Marschtakt, und singend zogen, begleitet von Hunderten, die nicht sangen, gegen 500 Männer und Jünglinge in den Burghof.


Den überraschten Freunden löste Otto das Rätsel. Neun Liedertafeln der Umgegend waren es, die zu einer großen Liederfahrt vereinigt, sich im Freudenthal zusammengefunden, dort einzelne Produktionen aufgeführt, und nun vereinigt mit gemeinsamer Sangeslust die Burg begrüßten. Von Gotha, von Erfurt, von Arnstadt, von Ohrdruf, von Georgenthal und anderen Orten waren sie gekommen, und es war eine Lust, die kunstgeübten Männerchorgesänge zu hören, das bunte Gewimmel erfreuter Hörer und Hörerinnen zu sehen, die den alten Bau so jugendfrisch und lebendig schmückten. Die Gegenwart hing ihren schönsten Kranz an den Grabstein der Vergangenheit auf, und mehr als dreitausend Menschen freuten sich hier in Eintracht und Liebe, geistig emporgehoben auf den Schwanenfittigen der allveredelnden Gesangkunst.


Otto konnte der Befreundeten viele unter den Gekommenen begrüßen, in deren Kreise seine Freunde sich alsbald mit der den Thüringern eigenen Herzlichkeit aufgenommen sahen, und jene fanden hohen Genuss an diesem Wahrnehmen eines edel-gemütlichen Volkslebens, für dessen lange dauerndes Fortblühen sie die besten Wünsche aussprachen.


Erst als die Sonne sinkend noch die Schwesterburgen und die liebliche Gegend mit flammendem Gold übergoss, verlor sich die frohe Menge, sagten sich die nach allen vier Winden Ziehenden Lebewohl, mit dem Versprechen baldigen Wiederbegegnens, und die Freunde fuhren nun rasch im Geleit der Liedertafel von Gotha, umschwärmt von lustigen Reitern, und unter die spätere Dämmerung noch melodisch durchschallenden Gesängen auch Gotha zu. Auf steilem und sterilem Kalkberg zur Linken thronte einsam die Sternwarte Seeberg; sie konnte nicht besucht werden, aber es glühten im Herzen manches der Fahrenden die Dioskuren der Freundschaft und Liebe, und machten ihren inneren Himmel in der äußern Sternennacht sonnenhell.