
Im Rhein wurde bei Mainz ein gotisches Schwert gefunden, das eine gewisse Sorte von Schwertern repräsentiert, deren waffengeschichtliche Bedeutung noch nicht genügend gewürdigt worden ist. Unsere Mittelalterschwerter sind fast ohne Ausnahme für den Hieb bestimmt. Die breite, schwere Klinge diente in erster Linie dem Hieb, daher auch die Spitze bei den älteren Schwertern noch wenig ausgebildet ist. Im 14. Jahrhundert ist die Tendenz, das Schwert auch für den Stoß geeigneter zu machen, zwar deutlich erkennbar, allein in der Hauptsache ist es doch immer noch Hiebwaffe.
Es bleibt das auch im 15. Jahrhundert, doch sind bekanntlich die Schwerter dieser Zeit bereits ebenso sehr Stoß- wie Hiebwaffe. Das Verhältnis der allmähligen Umwandlung lässt sich in Ziffern ungefähr folgendermaßen ausdrücken:
12. Jahrhundert 90 % Hiebwaffe
13. Jahrhundert 80 % Hiebwaffe
14. Jahrhundert 70 % Hiebwaffe
15. Jahrhundert 50 % Hiebwaffe
12. Jahrhundert 10 % Stoßwaffe
13. Jahrhundert 20 % Stoßwaffe
14. Jahrhundert 30 % Stoßwaffe
15. Jahrhundert 50 % Stoßwaffe
Was die gotische Hiebklinge des 15. Jahrhunderts an Gewicht verliert, wird ihr durch Verstärkung des Knaufes und durch Verlängerung der Knaufstange, d. h. durch Schaffung eines Gegengewichtes, eines Hebels, ersetzt.
Aber neben diesen Schwertern erscheinen im 15. Jahrhundert Schwertwaffen, welche für den Krieg bestimmt waren, also weder bloße Parade-, noch einfache Fecht- oder gar nur Jagdwaffen waren (demnach nicht mit den gotischen Jagd-Stoßschwertern verwechselt werden dürfen), aber für den Hieb absolut ungeeignet sind und ersichtlich lediglich und ausschließlich für den Stoß berechnet waren.
Boeheim gedenkt ähnlicher Schwerter unter dem Namen der Bohrschwerter (perswerte, pratspiesse), «welche in der Form langer Pfriemen mit drei oder vierseitigem Querschnitt und stumpfen Kanten nur für den Stoß zu gebrauchen waren». Boeheim bildet unter Fig. 388 ein solches Bohrschwert der Zeit um 1500 ab, doch bilden diese Schwerter ersichtlich nur eine besondere Abart der viel allgemeiner üblichen gotischen Stoßschwerter, eines Schwertes mit langer und starker, aber wenig breiter, dafür umso spitzer zulaufenden Klinge, wie dies das bei Mainz im Rhein gefundene Schwert (s. Abb.) als besonders typisches Beispiel charakterisiert.
Die dachförmige Klinge misst nur 2,5 cm in der Breite, hat aber 1 cm Dicke und nicht weniger als 96 cm Länge. Analoge Klingen sind bei Boeheim (Waffenkunde) nicht abgebildet, finden sich aber bei Gimbel (Tafeln zur Entwicklungsgeschichte der Schutz- und Trutzwaffen) und in meinem Katalog der «Waffensammlung Zschille».
Während aber an diesen und ähnlichen Schwertern die Griffe bald unvollständig, bald noch mit starken Knäufen versehen oder ummontiert worden sind, zeigt das hier wiedergegebene Mainzer Schwert auch den Griff im Originalzustand resp. in einer dem Charakter des Schwertes als Stoßschwert angepassten Form. Der dem Hieb vorzüglich dienliche schwere große Knauf stört beim Stoßfechten und ist daher hier lang und schmal gestaltet worden. Der Griff ist von ungewohnter Eleganz und misst nicht weniger als 26 cm, sodass sich für das Ganze eine Totallänge von 1,22 m ergibt.
Es ist ein Schwert, das, wie die langen Stoßdegen des 16. Jahrhunderts, dem «Degenfechten» diente und stellt jedenfalls den direkten gotischen Vorläufer der Stoßdegen des 16. Jahrhunderts dar. Schwerter dieser Art sind, wie bereits angedeutet, nicht vereinzelt, sondern kommen fast überall neben dem Hieb dienenden gotischen Klingen vor. Bereits im 15. Jahrhundert muss sich also die Fechtweise in zwei gleichmäßig gepflegte Arten getrennt haben. Die eine pflegt Hieb und Stoß, entspricht also den heute üblichen Säbeln, die andere pflegt ausschließlich den Stoß, entspricht demnach dem Rapier späterer Tage.
Dergleichen Stoßschwerter finden sich sowohl in Deutschland, als in Österreich, Frankreich und Italien. Erst im 16. Jahrhundert tritt dann eine gewisse örtliche Teilung ein. Deutschland zieht das Hiebschwert vor, der Südwesten bildet das Stoßschwert weiter aus, bis mit dem Einfluss der Spanier auf unsere nördlichen Gebiete (Deutschland, Holland etc.) der lange Stoßdegen auch hier zur Herrschaft gelangt.
R. Forrer.
Quelle: Zeitschrift für Historische Waffenkunde. Organ des Vereins für historische Waffenkunde. II. Band. Heft 2. Dresden, 1900-1902.