Der größte Übelstand im Geschützwesen bestand noch am Ende des 15. Jahrhunderts in der ganz systemlosen Vielgestaltigkeit der Rohre, die nicht nur eine Beurteilung der Leistung verhinderte, sondern auch große Schwierigkeit für den Munitionsersatz herbeiführte. In Italien, namentlich in Venedig und Genua, auch in Frankreich suchte man diesem Übelstand abzuhelfen, der Erfolg blieb aber hinter den Erwartungen zurück. Später nahm Kaiser Maximilian (um 1498) eine eingreifende Reorganisation seines Geschützwesens vor; sein System, dessen Durchbildung von dem Hauszeugmeister Bartolomeus Freysleben herrührt, ist in seinen von uns öfter erwähnten Zeugbüchern niedergelegt. So scharfsinnig es auch erschien, so wurde es doch durch die am Beginn des 16. Jahrhunderts hereinbrechende gänzliche Umgestaltung des gesamten Kriegswesens und der Kriegführung rasch überholt. Nach den Zeugbüchern zählte man in den Zeughäusern des Kaisers Maximilian folgende Geschützgattungen: Hauptstücke (Bombarden, von welchen viele aus anderen Ländern stammten und erobert waren), Scharfmetzen (Fig. 518), Basilisken, Vierteilbüchsen, Singerinen, große Schlangen, (Fig. 519.) Feld- oder Mittelschlangen, Haufnitzen, Falkonetlein (Fig. 520.) (kleines Geschütz, welches von einem Pferd in der Gabel geführt wurde), Kammerschlangen (Hinterlader auf Drehbasse), endlich eine kleinere Geschützgattung, welche Dorndrell (tornarello) und auch Terrasbüchse (von dem spanischen terasca, teraxa, Schlange) genannt wird. Unter den Mörsern, welche verschiedenartige Größen und Formen besaßen, werden Haupt- (Fig. 521) und kleine Mörser (Lerchlein) mit sternförmiger Bohrung (um das Auflodern der aus ihn geworfenen Feuerwerkskörper zu befördern). Kalibermaße sind nicht angegeben, sie lassen sich aus den Aquarellen nur ungefähr schätzen.
Unter Kaiser Maximilian begann man auch die Geschütze zu bohren, aber das war anfänglich noch eine mühsame und unverlässliche Arbeit mittels schwerer Handbohrer, die im „Gangspill“ bei ungenauer Führung liefen. Man verbesserte daran im 16. Jahrhundert vieles, doch wurden nach wie vor viele Geschütze mit der Seele gegossen. Erst am Beginn des 18. Jahrhunderts erfand J. Maritz in Bern die Kanonendrehmühle, eine mechanische Einrichtung, die eine genau zentrale Bohrung lieferte. Unter Kaiser Karl V. bildete sich zuerst ein bestimmtes und brauchbares Geschützsystem, das Kalibersystem, aus, das mit geringen Abweichungen auch von Frankreich und von den bedeutenderen italienischen Staaten angenommen wurde.
Fig. 517. Hauptbüchse in Bronze gegossen und mit doppeltem Schildzapfen ausgestattet, genannt „die wohlgestimbt Lauerpfeiff“. Nach einem Modell in der Waffensammlung des k. Hauses zu Wien. 15. Jahrhundert. Innsbrucker Gießstätte.
Fig. 518. Scharfmetze in Blocklafette. 15. Jahrhundert. Aus den Zeugbüchern Maximilians I. Zeug: Österr. Land.
Der Erfinder des Kalibersystems, das auf dem Verhältnis des Bohrungsdurchmessers zum Steingewicht der Kugel beruhte, war der Vikar der St. Sebaldskirche zu Nürnberg Georg Hartmann (1489 bis 1564), der Schöpfer des darauf fußenden Geschützsystems aber der geniale Stuckgießer Gregor Löffler. Auch dieses neuere System behielt die Bezeichnungen der Geschütze im Allgemeinen (nach den sogenannten drei Geschlechtern: Kanonen, Schlangen und Falken) bei, es regelte nur die Gewichtsverhältnisse. Der Park Karls V. bestand aus 40- und 12-pfündigen Kanonen, 24-, 12- und 6 pfündigen Schlangen und 6½- und 3-pfündigen Falken. Das Kugelgewicht war auf Stein berechnet und wurde auch dann beibehalten, als um 1520 bereits allenthalben eiserne Kugeln, anfänglich geschmiedet, später gegossen zur Verwendung gelangten1. Die 40-pfündigen Kanonen wurden gemeinlich Kartaunen benannt, eine Bezeichnung, die sich von dem italienischen Quartana — richtiger Quarantana — herschreibt. Ebenso wurden die Schlangen als „ganze“, „halbe“ und „Viertelschlangen“, letztere auch als Scharfetindlein bezeichnet. Die kleine Falkengattung benannte man Falkonete.
Die italienischen Artillerien besaßen noch 1480 einen ungemein vielgestaltigen Geschützpark, darunter folgende Gattungen: die Bombarde zu 300, den Mortier (Mörser) zu 200—300, die Comuna zu 50, die Cortana zu 60—100, die Passa volante zu 162, den Basilisk zu 203, die Cerbatana zu 2—3, endlich die Espingarde zu 10—154 Pfund nach dem Gewicht des Materiales.
In Frankreich wurde das System um 1550 auf das Äußerste vereinfacht. Der Feldpark bestand damals aus Canons zu 33, Grande couleuvrines zu 15, Couleuvrines batardes zu 7, Couleuvrines moyennes zu 2, Faucons zu 1 Pfund und Fauconneaus zu 14 Unzen Steingewicht. Man sieht, das französische System näherte sich am meisten dem deutschen, nur war im Allgemeinen das Kaliber weit leichter, seitdem um 1540 die Basilisken zu 66 franz. Pfunden und die schweren Serpentines ausgeschieden wurden.
1Das heißt, jede eiserne Kugel wird mit jenem Gewicht benannt, welches eine gleich große, steinerne Kugel wiegt. Man nennt das Nürnberger- oder Steingewicht, es war in Deutschland noch bis ca. 1860 in Anwendung.
2Eiserne, mit Blei umgossene Kugeln.
3Kugeln aus Bronze oder Eisen.
4Stein.
Fig. 519. Große Schlange in sogenannter Burgunderlafette. 15. Jahrhundert. Aus den Zeugbüchern Maximilians I.
Dazwischen gab es aber noch immer eine ungeheure Menge von Geschützarten namentlich in Frankreich und Italien; wie in der Marine die Cardinales, Berches. In den Landheeren die Courtans, Boites, Veugliaires, Crapaudeaus, Flageollets, Cerbatanas (aus dem Spanischen: Blasrohr), Emerillons, Mouches und hundert andere Arten, denen oft nur der Soldatenwitz einen Namen verlieh.
Eigentümlich ist der vom 14. Jahrhundert sich herschreibende Gebrauch, die Geschütze mit Namen zu benennen. In Deutschland zuerst wahrnehmbar, erklärt er sich aus der urgermanischen Neigung der Krieger, die Waffe zu personifizieren und als lebendiges Wesen aufzufassen. So finden wir deutschen Geschützen des 15. und 16. Jahrhunderts die sonderbarsten Namen beigelegt, wie der Purlepaus, der Schnurrhindurch, die Lauerpfeiff, die Buhlerin, der gestreifte Löw und dergleichen. Nicht selten treten auch unflätige Namen zutage. Diese Benennungen verschwinden in Deutschland erst um 1710. In Frankreich war eine Namenverleihung bei Geschützen nicht immer in Gebrauch. Unter Ludwig XII. findet sich ausnahmslos nur das Stachelschwein (porc-épic, das Sinnbild des Königs), unter Franz I. der Salamander usw. Die spätere französische Artillerie hatte zwar auch Benennungen für Geschütze, wie l’invincible, le monstrueux, l’aigle, le dragon und dergleichen, diese hatten aber weniger eine allegorische Bedeutung, als vielmehr einen praktischen Zweck. In Italien, wo sich vom 14. Jahrhundert an meist von der Mythologie hergenommene Namen für Geschütze finden, steht dieser Brauch mit dem Geist der Zeit, der alles zu antikisieren suchte, im Zusammenhang.
Fig. 520. Falkonetlein in sogenannter Gabellafette. 15. Jahrhundert. Aus den Zeugbüchern Maximilians I. Zeug Österr. Land.
Das Pulver wurde anfänglich in Mehlform hergestellt, wie sie sich aus dem Gemenge der pulverisierten Substanzen ergab. Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts begann man es zu körnen und, wie aus urkundlichen Mitteilungen hervorgeht, einen Unterschied zwischen Stuck- (Geschütz-) und Büchsen- (Gewehr-)pulver zu machen. Die Abfeuerung wurde anfänglich mittelst eines glühenden Kohlenstückes bewirkt, welches auf die schalenförmige Aushöhlung am Zündloch (Pfanne) gelegt wurde. Später füllte man die Zündlochschale mit Pulver und entzündete dieses mittelst Eisenstangen, welche an einem Ende glühend gemacht wurden. Erst am Ende des 14. Jahrhunderts kam der Feuerschwamm (Polyporus fomentarius und Polyporus igniarius) auch Moder verschiedener Holzarten, wie z. B. der Buche für diesen Zweck in Gebrauch; der Name „Schwamm“ erhielt sich, auf die Stricklunte angewendet, noch bis ins 16. Jahrhundert herein. Etwa um 1420 wurde die sogenannte Lunte (mèche) erfunden, die aus einem fingerdicken Hanfstrick bestand, welcher mit Bleizucker gebeizt wurde und damit die Fähigkeit erhielt, wenn angezündet, fortzuglimmen.
Die Mörser (mortier), anfänglich von bedeutender Größe und für das Werfen von Lagen großer Feldsteine berechnet, werden im Verlauf des 15. Jahrhunderts merklich kleiner. Die Kammer, zur Aufnahme der Pulverladung anfänglich zu klein, kam nun zum vorderen Teil (Flug) in ein besseres Verhältnis. Man bediente sich ihrer zum Werfen von Steinkugeln, aber auch von Kugeln aus Lehm, welche mit Brand- und Sprengsatz gefüllt und gitterartig mit Eisendraht umstrickt waren. Zum Werfen von Feuerwerkskörpern bediente man sich am Anfang des 16. Jahrhunderts kleinerer Mörser (Lerchlein), die sternförmig gebohrt waren. Das hatte den Zweck, dem im Rohr angezündeten Körper Luft zuzuführen, damit der Brandsatz nicht verlösche. Im Niederländischen Krieg des 16. Jahrhunderts erscheinen zuerst die kleinen Mörser für 7-pfündige Hohlkugeln. Sie bewährten sich vorzüglich ihrer Handsamkeit wegen im Laufgraben. Später erscheinen sie unter der Bezeichnung Coehornscher Mörser, weil dieser niederländische General sie seit 1688 vielfach anwendete.
Vom 14. Jahrhundert an kommen uns Berichte zu von der Anwendung lederner Geschütze. Diese Neuerung beruhte vermutlich auf der Elastizität des Materiales und dessen geringem Gewicht. Der kleine lederne Mörser im Arsenal zu Venedig soll 1379 und 1380 unter Vittorio Pisani und Carlo Zeno (?) vor Chioggia gebraucht worden sein. Eine kleine Lederkanone aus dem 16. Jahrhundert mit dem Wappen der Medici wird in der Sammlung Modena in Wien bewahrt. Bekannt ist, dass die aufrührerischen Salzburger ihren Landesherrn, den Erzbischof Matthäus Lang, 1525 mit aus dickem Leder gefertigten Kanonen auf dessen Feste Hohensalzburg belagerten. In der schwedischen Armee wurden Lederkanonen 1626 durch den englischen Baronet Robert Scot eingeführt, der mit 200 Mann in Gustav Adolfs Dienste getreten war. Sie wurden aber, da sie sich in der Schlacht bei Leipzig schlecht bewährten, 1631 wieder abgeschafft. Die jüngste Lederkanone befindet sich im k. k. Heeresmuseum zu Wien. Sie soll 1702 als Geschenk der Stadt Augsburg an König Josef I. gekommen sein. Sie ist ihrer Konstruktion nach nur ein Schaustück.
Zum Schluss sei noch einer artilleristischen Sprengmaschine, der Petarde, gedacht; auch sie entstand im 16. Jahrhundert und zwar in den Niederlanden. Ihr Zweck ist, Festungstore, Palisadenwände und andere Abschlüsse aufzusprengen. Sie besteht aus einem in Metall gegossenen Kessel, der mit seiner Mündung auf eine quadratförmige Bohle (Madrillbrett) aufgeschraubt ist. Die Entzündungsvorrichtung befindet sich am Boden des Kessels. Die Petarde wurde vor dem Gebrauch mit einem eigens gemischten (hartreissenden) Pulver geladen. Der Petardier hatte zwei Gehilfen, welche die Petarde trugen, er näherte sich dem zu sprengenden Tor und schlug oder schraubte einen schweren Haken an einen der Flügel. Auf diesen wurde die Petarde, an deren Madrillbrett sich zu dem Ende ein Ring befand, gehängt und unverweilt angezündet wurde. Die Petarde wurde bereits 1579 von den Hugenotten bei St. Emilion verwendet, eine der ruhmvollsten Verwendungen fand sie bei der Einnahme von Raab 1598.
Fig. 521. Hängender Hauptmörser aus Bronze. 15. Jahrhundert. Aus den Zeugbüchern Maximilians I.
Die Handfeuerwaffe wird schon 1364 erwähnt. Die Stadt Perugia ließ 500 spannenlange Büchsen anfertigen, die man in der Hand führen konnte und deren Geschosse jeden Harnisch (Lentner) durchdrangen1. 1381 stellte der Rat zu Augsburg zum Krieg gegen den fränkischen und schwäbischen Adel 30 Büchsenschützen. 1388 zählte auch die Stadt Nürnberg bereits 48 Schützen, welche die Handbüchse gut handzuhaben vermochten, und 1399 wurden bei der Belagerung des Schlosses Tannenberg in Hessen Faustbüchsen verwendet.
Die ersten vom Fußvolk benutzten Feuerrohre bildeten einen Übergang vom Geschütz zum Handgewehr. Sie wurden von zwei Männern bedient und ihrer Schwere wegen auf leichten Rädergestellen geführt. An ihnen findet sich schon die erste Spur einer Schäftung insofern, als das Rohr an einer langen Stange befestigt war. An dieser Stange hielt der eine Mann das Rohr in der Richtung, während der andere abfeuerte.
So wenig die ersten Handbüchsen im Gefecht leisteten, so unsicher ihr Schuss war, so mochte man sich ihrer doch nicht entäußern, in der Hoffnung, sie allgemach zu verbessern. Diese Hoffnung bewährte sich auch, denn im Verlauf des 15. Jahrhunderts jagte eine sinnreiche Verbesserung die andere.
1Hoyer, Geschichte der Kriegskunst.
Fig. 522. Scopitus, nach Paulus Sanctius (Bibl. Richelieu). 1460. Aus Gay, Glossaire archéologique.
Fig. 523. Gemeine Hakenbüchse mit gebohrtem Bronzelauf und Zündpfanne. Das Schloss, inkomplett, war ursprünglich ein Luntenschnapphahnschloss. Die Entladung erfolgt vom Drücker g, wodurch der Stift e zurücktritt und den Schnapphahn frei macht. Gesamtlänge 160 cm. Deutsch. Das Rohr trägt die Nürnberger Marke. Um 1520.
Fig. 524. Standbüchse mit 123 cm langem Messinglauf und Visierrohr. Der Schaft ist zum Anlegen an die Schulter rückwärts hornartig gebildet. An der Stelle der Pfanne ist ein Feuerschirm aus Leder angebracht. Italienisch, um 1515.
Um 1460 führte der italienische leichte Reiter, später auch der französische ein spannlanges Rohr (scopitus), welches rückwärts in eine Stange auslief, die mit einem Ring endete. Der Reiter trug diese Hand- oder Knallbüchse an einem Riemen um den Hals und legte sie zum Schuss auf eine Gabel auf, welche an dem vorderen Sattelbogen befestigt war. Diese Scopiti (davon das spätere Wort Escopette für kurze Reitergewehre) blieben in Frankreich mit allerlei Verbesserungen sehr lange in Verwendung und aus ihnen ist das spätere Faustrohr entstanden. Von dem Gebrauch, sie an die Harnischbrust anzusetzen, erhielten sie die Bezeichnung petrinal (von poitrine). Diese kleinen Reiterbüchsen wurden mit der Lunte abgefeuert (Fig. 522). Ein großer Übelstand bei den ersten Feuerrohren war der ungemein starke Rückprall. Man versuchte daher diesen auf einen anderen festen Gegenstand zu übertragen und versah zu diesem Zweck das Rohr an seiner Mündung unterhalb mit einem starken Ansatz (Haken), der beim Schuss an eine Mauer oder einen Pflock angelegt wurde. Von diesem Haken stammt ohne Zweifel die spätere Bezeichnung Hakenbüchse1. Einen Gegenstand emsiger Sorge bildete die zur Handhabung des Rohres unentbehrliche Schäftung. Die ersten Feuerrohre besaßen keinen Holzschaft, sondern endeten rückwärts in einem stangenartigen Fortsatz (Schwanz). Später wurde an das Bodenstück ein spitzer Dorn angeschweißt, welcher in ein längliches, prismatisches Holzstück (Kolben) eingelassen wurde. Erst gegen 1470 erhält das Rohr einen (ganzen) Schaft, in dessen Rinne es eingelagert erscheint. Bei diesen ersten ganzen Schäften war der Kolben gerade gestaltet und das Rohr in der ausgehöhlten Rinne mit Stiften befestigt. Diese älteste Form ist das Vorbild des späteren deutschen Schaftes (Fig. 523). In Italien und Frankreich finden sich mannigfache andere Formen, namentlich in der Partie am Kolben. Da erscheinen ringförmige Kolben, solche, welche hakenähnlich enden, um die Schulter daran zu stemmen (Fig. 524), endlich auch nach abwärts abgebogene. Alle diese Änderungen führen später zu bestimmten nationalen Schaftformen, die wir später erwähnen werden.
1Und nicht von dem hakenförmigen Hahn am Luntenschloss, denn die Bezeichnung arcubusari kommt schon weit vor Erfindung des Luntenschlosses, 1417, in den Komentarien des Fr. Carpezani, vor. Vergl. Gay, Glossaire, pag. 73.
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Quelle: Wendelin Boeheims "Handbuch der Waffenkunde"