Der Grundsatz, dass das Blut lebender Wesen den Göttern ein besonders willkommenes Opfer sei, galt auch bei den Völkern Mittel-amerikas und so brachte man ihnen denn vielerlei Tiere zum Opfer. Bei den Maya war es besonders der Truthahn, der als Spende an die Götter vielfach in ihren Handschriften abgebildet ist. Bei den Azteken bildeten den häufigsten Opfergegenstand aus dem Tierreich die Wachteln, denen man vor dem Bild des Gottes den Kopf abriss, sodass das frische Blut auf den Altar oder in die heiligen Gefäße rann. Auch größere Tiere, Hunde, Wild, wurden bei bestimmten Anlässen geopfert. Das wertvollste Opfer aber war das menschliche Blut, nur brachte man dieses den Göttern keineswegs ausschließlich in der Form dar, dass man das Opfer tötete. Es wird als eine Anordnung Quetzalcoatls angesehen, obwohl es jedenfalls ein uralter priesterlicher Brauch war, sich zu Ehren der Götter der Selbstkasteiung zu unterwerfen.
Von dem Fasten und den Entbehrungen, denen sich die Priester unterwarfen, war schon die Rede. Aber abgesehen davon, dass den meisten Festen gesetzlich bestimmte allgemeine Fastenzeiten
vorauszugehen pflegten, war das Meiden des menschlichen Verkehrs, die Zurückziehung in die Laube des Büßers, verbunden mit Fasten und Selbstquälereien eine oft auferlegte Strafe oder aber auch
ein den Göttern freiwillig dargebrachtes und gern gesehenes Opfer. In diesem Zusammenhang nahm die Blutentziehung wohl ihren größten Umfang an. Sie war aber in bestimmten bescheidenen Grenzen
nicht nur den Priestern, sondern jedem Gläubigen bei bestimmten Gelegenheiten vorgeschrieben. Sie erfolgte meist mithilfe der scharfen Dornen der Maguey-Blätter, doch konnten auch Fischgräten,
Knochenspitzen oder andere scharfe Gegenstände deren Stelle ersetzen. Man entzog sich das Blut an den verschiedensten Teilen des Körpers, an den Oberarmen, der Brust, den Schenkeln, den
Geschlechtsteilen. Die verbreitetste Form des Blutopfers aber war die Durchbohrung respektive Ritzung des Ohrläppchens und der Zunge. Im Allgemeinen ritzte man nur die Oberfläche — bei der Zunge
mit Vorliebe an deren unteren Seite — so weit, dass das Blut tropfenweise hervorquoll. Die so befleckten Dornen wurden in Gras eingewickelt oder die Blutstropfen auf Gras aufgefangen und so den
Göttern dargebracht. Die bildlichen Darstellungen machen es aber wahrscheinlich, dass die Priester diese Kasteiungen in wesentlich verschärfter Form an sich vornahmen, indem sie die Zunge
tatsächlich so weit durchbohrten, dass sie ein feines Grasseil, in welches von Zeit zu Zeit scharfe Dornen eingeknüpft waren, durch die durchbohrte Zunge hindurchzogen. Ein berühmtes Relief von
Tenosique — jetzt im British Museum — stellt einen in reiche Gewänder gehüllten Priester dar, der vor seinem Gott kniend diese Art der Selbstkasteiung vornimmt. Das Durchbohren der Zunge mit
einem spitzen Knochen oder Pflock wird in Maya- wie Nahua-Handschriften öfter abgebildet. Eine ähnliche, wenn auch minder blutige Form der Selbstquälung bildete das Ausheben der Augen aus ihrer
Höhlung, was gleichfalls des Öfteren abgebildet wird.
Bei den Maya und in dem Kultus des Quetzalcoatl bildeten diese Kasteiungen die üblichen, fast ausschließlichen Opfer menschlichen Blutes. Quetzalcoatl verabscheute unbedingt das Opfer, welches
durch die Tötung menschlicher Wesen dargebracht wurde. Auch von den Maya wird öfters behauptet, dass ihnen das Menschenopfer unbekannt und verabscheuungswürdig gewesen sei. Das letztere kann aber
kaum wörtlich richtig sein.
Dass es bei den Maya äußerst selten und nur bei ganz ungewöhnlichen Anlässen vorkam, darin stimmen alle Berichterstatter überein. Sie erzählen aber auch davon, dass in dem heiligen Teich von
Chichen Itza Jungfrauen oder Kinder ertränkt wurden als Opfer für die Götter. Und in den Maya-Handschriften findet sich das Menschenopfer wenigstens zweimal in der bei den Azteken üblichen Form
dargestellt: durch Ausreißen des Herzens. Endlich wird überliefert, dass die Maya eine besondere Bezeichnung, Nacom, für diejenigen Priester gekannt hätten, denen es oblag, den zum Opfer
Bestimmten die Brust zu öffnen.
Obwohl dies die typische Form gewesen ist, in welcher das Menschenopfer bei den Azteken vollzogen wurde, so ist es keineswegs die einzige. Es gab bestimmte Gelegenheiten, bei denen das Opfer an
einen Pfahl gebunden und durch Pfeilschüsse getötet wurde. Bei anderen Anlässen wurde ihm der Kopf abgeschnitten. Auch der Tod durch Ertränken kommt als Form des Opfers vor. Manchmal wurde dem
Opfer das Herz zwar ausgerissen, aber erst unmittelbar nachdem der Tod eingetreten war. So besonders am Fest Xiutecutlis, wo die Opfer lebendig auf dem Scheiterhaufen geröstet, dann aber
möglichst noch zuckend vor den Altar des Gottes geschleift wurden, um den Tod durch Öffnen der Brust zu erleiden.
Auf jeder Tempelpyramide befand sich vor der Heiligtumszelle, dem Aufgang gegenüber, aber so, dass er möglichst von allen Seiten gesehen werden konnte, der Opferstein. Man hat wiederholt geglaubt, in gewissen großen Mühlstein ähnlichen Blöcken, die in der Nähe alter Heiligtümer gefunden worden waren, diese Opfersteine wiederzuerkennen. Das ist unbedingt irrig gewesen. Es mögen einzelne solcher Steine einer anderen Form des Opfers, dem Kampfopfer (sacrificio gladiatorio), gedient haben. Die meisten sind aber wohl nur Altäre gewesen, die oft in dieser Form gestaltet worden sind. In der Dresdener Maya-Handschrift findet sich eine Abbildung davon, wie dem über den Stein geworfenen Opfer die Brust geöffnet wird und mit deren Hilfe muss man sich nach den Beschreibungen der Chronisten den Opferstein ungefähr so vorstellen, wie einen in Tischhöhe abgeschnittenen großen Baumstumpf, dessen Oberfläche aber nicht flach, sondern nach allen Seiten abfallend gearbeitet war, sodass die Mitte kräftig emporgewölbt erschien. Über diesen Stein wurde der zu Opfernde so hinweggeworfen, dass die Wölbung unter den hohlen Rücken zu liegen kam: so traten die untersten Rippen stark gegen die Bauchhöhle vor und der Opferpriester konnte, indem er mit dem Obsidianmesser einen kräftigen Stoß direkt unterhalb der Rippen führte, eine Öffnung herstellen, die es ihm ermöglichte, das Herz des Opfers noch lebend zu erfassen und rasch herauszureißen. Damit er diese Manipulation mit Sicherheit vornehmen könne, wurde das Opfer von fünf Personen festgehalten, je zwei packten es an Händen und Füßen, während der fünfte den Kopf hintenüber bog, um das Heraustreten der Brusthöhle zu verstärken. Bei den Maya scheinen die Opfer an Händen und Füßen gefesselt gewesen zu sein, sodass auch schon drei Männer genügt hätten, um es in der richtigen Lage zu erhalten. Die Berichte sagen zwar nur ausnahmsweise davon, dass das Opfer anders als nur durch menschliche Kräfte festgehalten worden sei. Trotzdem hat man vielfach angenommen, dass der Kopf durch ein besonderes Instrument festgehalten wurde. Man hat nämlich auf mittelamerikanischem Boden eine große Anzahl von hufeisenförmigen Steinjochen aufgefunden, die teils nur oberflächlich geglättet, teils aber auch mehr oder minder reich mit Skulpturen bedeckt sind, die sowohl aus Maya als aus Nahua-Gegenden stammen. Man konnte sich zunächst deren Zweck nicht vorstellen, bis jemand auf den Gedanken verfiel, sie könnten in Verbindung mit den mühlsteinförmigen Opfersteinen dazu Verwendung gefunden haben, über den Hals des Opfers gelegt dessen Kopf festzuhalten. Die Erkenntnis von der echten Form des Opfersteins macht diese Deutung ohne weiteres hinfällig. Auch zeigen die Skulpturen der Joche, dass sie kaum einem so grausamen Zweck gedient haben können. Was aber ihre wirkliche Bedeutung gewesen sei, hat um deswillen noch nicht aufgeklärt werden können, weil weder die spanischen Chronisten dieser Gebilde Erwähnung tun, noch auch die alten Bilderschriften sie erkennen lassen.
Das Töten der Opfer durch das Herausreißen des Herzens erforderte sowohl Kraft als auch Geschicklichkeit. Es konnte deshalb nicht von dem Erstbesten verrichtet werden. Schon bei den Maya-Stämmen
gab es, wie wir sahen, eine bestimmte Kategorie von Priestern, denen diese Arbeit oblag. Es wird aber berichtet, dass diese in geringer Achtung standen. Auch bei den Mexikanern war es im
Allgemeinen die Obliegenheit einer untergeordneten Priesterklasse, diese Blutarbeit zu verrichten. Doch mussten auch die höheren und höchsten Priester hinlänglich mit den erforderlichen
Handgriffen vertraut sein. Denn wenn sie auch im Allgemeinen mit dem blutigen Geschäft verschont waren, so mussten sie doch an gewissen Festtagen das Opfer an den ersten vier dazu Bestimmten, je
einem für jede Gegend des Weltalls, vollziehen. Dass das Herausreißen des Herzens die Darbringung des ganzen Opfers symbolisiert, liegt auf der Hand. Auch diese halbzivilisierten Völker hatten
hinlänglich erkannt, dass die Brust und besonders das Herz der eigentliche Sitz des Lebens seien, sodass die Begriffe Herz und Atem auch in anderen Beziehungen gleichbedeutend mit Leben sind. Man
brachte denn auch den Göttern selbst nur die Herzen der Opfer dar, die, sobald sie herausgerissen waren, in einem irdenen Gefäß oder einem Korb gesammelt und so im Heiligtum vor dem Bild des
Gottes niedergelegt wurden.
Textquelle: Die Religion des mittleren Amerika
Bildquelle oben: Le Monde, histoire de tous les peuples depuis les temps les plus reculés jusqu'à nos jours, par MM. Paris, 1858.
Bildquelle Mitte: Travels in Mexico and Life among the Mexicans ... With 190 illustrations, etc, London 1890.
Bildquelle: unten: 'History of the Conquest of Mexico ... New and revised edition ... Edited by John Foster Kirk, London 1884.
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