S. J. Sacharow, "Erzählungen des russischen Volks über das häusliche Leben seiner Vorfahren", Petersburg, 1837
1. Das Farnkraut
In der Johannisnacht blüht das Farnkraut, wird aber von einem bösen Geist bewacht. In tiefer Mitternacht zeigt sich auf dem breiten Blättern die Blütenknospe. Bald schwankt sie hin und her, bald
wogt sie, wie eine Welle, bald hüpft sie, wie ein Vogel. Dieses alles geschieht nur deshalb, weil der böse Geist die Blüte vor menschlichen Augen verbergen möchte. Indem sie nun von Minute zu
Minute in die breite und höhe wächst, blüht sie wie eine feurige Kohle auf. Endlich gerade um 12 Uhr entfaltet sie die Blüte mit einem donnerähnlichen Krachen und leuchtet mit ihrem Glanz weit
umher. In diesem Augenblick erscheint der böse Geist und pflückt die Blüte.
Derjenige, der sich entschlossen hat, die Blüte zu gewinnen, muss zeitig in den Wald gehen; hier sucht er sich ein Kraut aus, zieht einen Kreis um dasselbe und muss das Aufblühen abwarten. Er
muss fest und ohne Wanken bei seinem Entschluss beharren, dem bösen Geist gegenüber allen Versuchungen widerstehen und gleichmütig bleiben bei allen möglichen Verwandlungen des Bösen. Wenn er auf
des bösen Ruf sich umsieht, so dreht ihm derselbe den Hals um oder erdrosselt ihn oder macht ihn fürs ganze Leben blödsinnig. Noch hat man kein Beispiel, dass ein Nichtzauberer sich der Blüht
bemächtigt habe.
Die Blüte des Farnkrauts gibt die Herrschaft über böse Geister, über Erde und Wasser, hilft Schätze finden und mach unsichtbar. Beim Aufsuchen von Schätzen wirft man die Blüte in die Höhe. Ist in
der Gegend ein Schatz vergraben, so schwebt die Blüte über der Stelle wie ein Stern und fällt nun gerade auf dem rechten Punkt zur Erde.
2. Die Springwurzel
Eine Art Steinbrech, bei den Wahrsagern auch der Hüpfer oder der Springer genannt. Diese Pflanze ist so selten und so schwer zu finden, dass nur tiefer eingeweihte Schüler der Magie sich in deren
Besitz sichern können. Nur wer Farnkrautblüte und Blutkraut besitzt, kann auch die Springwurzel gewinnen. Diese sprengt jedes Metall, namentlich die eisernen Türen, hinter welchen Räuber ihre
Schätze in der Erde vergraben und auf gewisse Jahre verwünscht haben, indem sie die Schlüssel der mächtigen Schlösser ins Meer werfen. Menschliche Kraft reicht nicht hin, diese Türen zu öffnen,
da ein böser Geist, dem das Bewachen der Schätze aufgetragen ist, sie mit seinem Rücken deckt. Die Zauberer, die für viel Geld das Geheimnis der Springwurzel sich verschafft haben, öffnen dem
Bauern den gefundenen Schatz. (Die Art und Weise, die Springwurzel zu gewinnen, ist nicht angegeben.)
3. Das Blutkraut, Lythrum Salicaria, genannt der Weiner, der Greiner.
Dieses Kraut wird vom Landvolk mit großem Respekt, ja mit Furcht betrachtet und die Wahrsager treiben viel Unfug damit. Sie graben die Wurzel dieses Krauts am Johannismorgen, mit Anbruch der
Morgenröte ohne alle eisernen Werkzeuge, und können damit, wie mit der Blüte, böse Geister in Furcht setzen, sie bändigen und sich dienstbar machen. Sie vertreiben damit Hausgeister, Hexen und
böse Geister, welche Schätze hüten. Damit die Wurzel die rechte Kraft gewinne, schleicht sich der Zauberer in der Kirche in das Allerheiligste, wendet sich nach Osten und spricht, die Wurzel in
der Hand haltend, folgende Beschwörung: "Greiner, Greiner! Lange und viel hast du geweinet, aber wenig Tränen zusammengeweinet! Deine Tränen sollen nicht übers freie Feld dahinrollen, dein Geheul
nicht über dem blauen Meere hinschweben. Sei du schrecklich den bösen Teufeln, Halbteufeln und den alten Hexen von Kiew. Wenn sie dir aber nicht gehorsam leisten, so ertränke sie in Tränen. Und
wenn sie vor deinem Anblick fliehen, so verschließe sie in die Abgründe der Hölle. Möge mein Wort bei dir stark und fest sein!"
Die Weihe der Wurzel soll noch von einer zweiten scheußlichen Zeremonie begleitet sein, die Sacharow mitzuteilen sich scheut.
4. Vom bösen Auge.
Der Volksglaube vom Bösen Auge ist orientalischen Ursprungs. Der Blick eines bösen, tückischen, listigen Menschen teilt Krankheiten mit und bringt sie hervor, da das Böse Auge Gift enthält. Jede
Krankheit fast soll vom Auge herrühren und die Wahrsager verfahren dagegen so: Sie nehmen Wasser von dem niemand getrunken oder gekostet hat, dann drei Kohlen aus dem Ofen und Donnerstagssalz
(?). Dieses Alles wird in ein Glas getan, worauf man dreimal darauf bläst und dreimal unversehens besprengt, dann nimmt er drei Schluck davon, worauf ihm die Herzgrube damit eingerieben wird. Das
Gesicht muss er dann mit dem Hemd abwischen. Das übrige Wasser gießt man an die Oberschwelle der Tür. Einige fügen noch zu diesem Wasser ein Stückchen Moos aus einem Winkel des Hauses, andere
sprechen darüber Gebete.
5. Der Hecktaler, der Rubel, der nicht gewechselt werden darf.
Wer den Hecktaler erwerben will, muss, ohne mit jemandem zu sprechen oder sich umzusehen, auf dem Markt gehen und daselbst einen Gänserich kaufen, für den er sogleich den geforderten Preis
auszahlt. Zu Hause drückt er dem Tier den Hals so zu, dass es erstickt, dann setzt er es ungerupft in den Ofen und lässt es bis um Mitternacht braten. Gegen 12 Uhr nimmt er den Gänserich aus dem
Ofen und geht mit ihm auf einen Kreuzweg, wo er ruft: "Kauft von mir einen Gänserich, gebt mir für ihn einen Silberrubel." In demselben Augenblick erscheint der böse Geist in Gestalt
verschiedener Käufer und bietet darauf verschiedene Preise, für welche aber der Gänserich nicht weggegeben werden darf, damit der böse Geist nicht Gewalt über den Verkäufer bekomme und ihn
zerdrücke. Kommt endlich ein Käufer, der gerade einen sucht, so gibt er ihm den Gänserich, nimmt den Rubel und eilt mit demselben, ohne sich umzusehen oder mit jemandem zu sprechen, nach Hause.
Wenn auch der böse Geist ihm nachschreit: "Du hast uns betrogen! Dein Gänserich ist tot; Du hast ihm den Kopf abgerissen und behauptest, er sei lebendig!", so darf er sich doch nicht abwenden.
Antwortet er dem Teufel, so verschwindet der Rubel aus seinen Händen und er selbst gerät bis an den Hals in einen Morast. Gelangt er wohlbehalten nach Hause, so erhält ihn der Rubel zeitlebens,
indem er immer wieder in seine Hände zurückkehrt. Doch darf man beim Kaufen auf den Hecktaler nie sich etwas herausgeben lassen, so ist es mit dem Hecktaler aus. Der böse Geist fährt in den
Kaufmann und gibt selbst da aus, wo es ganz unnötig ist, um seinen Hecktaler wieder zu erhalten. Gelingt ihm dies, so hat der Besitzer nur einen Tonscherben in der Tasche. Zum zweiten Male kann
man nie den Hecktalerer werben. Die Zauberer plündern unter dem Vorwand, den Hecktaler zu suchen, die armen Bauern sehr und nehmen ihm oft die letzte Kuh dafür ab. Wenn er dann keinen Hecktaler
bekommt, so ist bei der Beschwörung irgendein Versehen vorgekommen.
6. Das Hexenlied in der Walpurgisnacht besteht aus unverständlichen Wörtern. Es soll jeden, der es singt, augenblicklich bereichern, doch sind in der Regel die alten Weiber, die
es kennen und häufig singen, bettelarm.
7. "Wärwolf" (russische Version)
Wer ein Werwolf werden will, sucht im Walde einen abgehauenen Stamm, steckt ein kleines kupfernes Messer hinein und umwandelt den Stamm, indem er folgende Beschwörung murmelt:
"Auf dem Meer, auf dem Ozean, auf der Insel, auf Bujan,
auf der leeren trifft scheint der Mond auf einen Espenstamm,
in den grünen Wald, in das dunkle Tal,
am den Stamm geht ein zottiger Wolf,
auf den Zähnen ist ihm alles gehörnte Vieh.
Aber in den Wald geht nicht der Wolf hinein,
über in das Tal schleicht nicht der Wolf hinein.
Mond, Mond, golden Hörnchen,
mache flüssig die Kugeln, stumpf die Messer,
zertrümmere die Knotenstöcke,
lasse los die Furcht auf das Getier,
den Menschen und das Gewürm,
dass sie den grauen Wolf nicht fangen,
seinen warmen Pelz nicht schinden!
Mein Wort ist fest, fester als der Schlaf und das Wort des Helden!"
Dann springt er dreimal über den Stamm und läuft als Wolf in den Wald.
8. Zahnschmerz
Um sich oder andere von Zahnschmerzen zu befreien, spricht man, wenn man den Neumond zum ersten Mal erblickt, folgende unfehlbar und auf immer wirkende Beschwörung:
"Junger Mond! Du am Himmel heller und auf dem Feld reißendes Tier! Du heller Glanz, im Meere aber du schneller Hecht! Gibt du, barmherziger Gott, dass auch die Zähne schnell (munter, gesund)
heilen!"
Diese Beschwörung darf man nur einem Jüngerem oder einer Person anderen Geschlechts mitteilen, sonst verliert sie die Kraft.
Die aus Württemberg eingewanderten Kolonisten in Bessarabien rufen bei Zahnschmerzen den jungen Mond an und sprechen: "Du blasser Mond mit deinen beiden Zacken, nimm mir den Schmerz aus meinen
beiden Backen! Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!" Diese Beschwörung soll aus dem sechsten Buche Moses genommen sein.
Mündliche Mitteilungen:
9. Schöpfung der Welt nach der Meinung der Raskolniks.
Die Raskolniks (Abgetrennten) oder Starowerzen (Altgläubigen) bilden eine zahlreiche Sekte, welche sich durch einfache Gebräuche und Sittenreinheit auszeichnet. Sie verabscheuen den Gebrauch des
Tabaks, den sie das Gott missfällige Kraut nennen. Hat jemand in ihrem Zimmer geraucht, so wird dasselbe drei Tage lang gewaschen, mit Weihrauch geräuchert, zuweilen auch die von dem Raucher
berührten Gefäße zerschlagen. Von der Schöpfung erzählen sie:
Die Erde war im Anfang ganz mit Wasser überschwemmt. Als nun Gott das feste Land schaffen wollte, schickte er den Teufel ins Wasser, eine Hand voll Erde vom Grund des Meeres zu holen, wobei er sagen sollte: "Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!" Der Teufel tauchte unter, holte eine Handvoll, sagte aber nicht dabei. Als er nun an die Oberfläche kam, war seine Hand leer. Daher musste er zum zweiten Mal untertauchen, sagte die vorgeschriebenen Worte, wollte aber von der Erde etwas für sich behalten, brach daher ein kleines Stückchen ab und stecke es in den Mund. Das übrige übergab er Gott, der es ausstreute und sprach: "Es vermehre sich das Land und wachse!" Da wuchsen denn drei Erdteile daraus, aber auch das Stück in des Teufels Mund fing an zu wachsen, sodass ihm die Backe dick aufschwoll und der vergeblich sich bemühte, es auszuspeien. Endlich befreite ihn Gott von seiner Plage, er spie das Stück aus über alle Lande und es wurden daraus Moraste, Wüsten und unfruchtbare Stellen.
Gott bildete nun den Leib des Menschen aus Ton fertig und legte ihn auf die Erde. Während er in seine Kammer ging, die Seele zu holen, stellte er den Hund als Wächter auf. Der Teufel kam und als er den so schön gebildeten Leib erblickte, dachte er darauf, ihn zu zerstören. Der Hund aber war weder durch Lockungen noch durch Drohungen hinwegzubringen, sondern fuhr auf ihn los und biss ihn in die dünnen Waden. Da ließ der Teufel eine gewaltige Kälte kommen und der Hund, der damals nicht unbehaart war, erstarrte, sodass er nicht von der Stelle sich bewegen konnte. Dann trat er näher und bespie den Leib mehrere Male, was die Ursache von allerlei Krankheiten, Leiden, Sünden und Gebrechen geworden ist.
Gott kam zurück, setzte die Seele ein, wollte aber nicht erst den ganzen Leib umbilden, sondern ließ ihn unverändert, da er einsah, dass auch diese Leiden notwendig seien. Dem Hund aber gab er
einen Pelz, damit er in ähnlichen Fällen sein Wächteramt besser verwalten könne.
Mündliche Mitteilungen von Raskolniks aus der Gegend von Pleskow.
10. Die Hexenprobe
In der Ukraine kamen auf einem Gut vielerlei sonderbare Unglücksfälle vor. Es fiel das Vieh, Menschen wurden plötzlich von Krankheiten ergriffen oder stürzten tot nieder und dergleichen. Man
hatte Verdacht auf einige alte Weiber, erzählte sich, dass sie Menschenknochen durchschlägt und das Mark zu Zaubereien herausgenommen hätten, um damit die Saat oder die Gärten der Nachbarn zu
verderben usw. Die Bauern brachten alle verdächtigen Weiber zusammen und warfen sie in einen Teich. Die welche gleich sanken, wurden für unschuldig erklärt und entlassen. Eines aber, welches oben
schwamm, wurde so fürchterlich mit Ruten gepeitscht, dass es wie tot liegen blieb. Der Gutsherr, als er davon erfuhr, machte den Bauern Vorwürfe. Sie meinten aber, sie werde sich schon wieder
erholen, denn der Teufel werde sie noch eine zeitlang verschonen. Dies geschah auch, aber zugleich hörten auch die verdächtigen Unglücksfälle auf.
11. Blutstillen
Ein Gutsherr in Südrussland hatte in seiner zahlreichen Herde bei Pferden und Rindvieh viel Unglück durch Verwundungen, die gleich in Eiterungen übergingen und von Insekten wimmelten.
Verschiedene dagegen angewandte Mittel halfen nichts. Auf den Rat eines Bauern wandte er sich an einen Besprecher, der durch kaltes Wasser und einige Worte sogleich das Blut stillte oder die
Wunden, selbst wenn sie schon recht böse waren, in wenigen Tagen heilte. (In Mecklenburg verfährt man ebenso und nennt es: über den Stock verbinden) Für ein gutes Trinkgeld lehrte er den
Gutsherrn diese Worte, die derselbe später bei vielen Gelegenheiten mit Erfolg anwendete, aber das Versprechen geben musste, sie nicht weiter zu sagen.
Einst wurde sein Kutscher auf einer Reise von einem starken Nasenbluten überfallen. Der Herr besprach das Blut, welches auf der Stelle aufhörte zu fließen, aber der Kutscher wurde seitdem wochenlang von heftigen Kopfschmerzen gequält. Deshalb wandte er hinfort diese Kunst mit vieler Vorsicht an, suchte auch, wie er sagte, die Worte zu vergessen.
Beim Holzfällen hieb einst ein Russe sich mit dem Beil so, dass das Blut in Strömen herausdrang und er schon anfing, ohnmächtig zu werden. Ein anderer Russe eilte herbei, legte die Hand auf die
Wunde und rief: "Es ist genug!" Und das Blut hörte auf der Stelle auf zu fließen.
12. Die Schamanen in Sibirien
Im Jahr 1820 besuchte der Leutnant Matjuschkin, Begleiter des Baron Wrangel auf seiner Nordexpedition, die Teufelsjurte im Mordwalde.
In der Mitte der Jurte loderte ein Feuer, um welches ein Kreis von Fellen schwarzer, wilder Schafe gelegt war. Auf diesen ging unter halblauten Beschwörungen ein Schamane hin und her. Sein langes
schwarzes struppiges Haar bedeckte ihm fast das ganze aufgedunsene dunkelrote Gesicht. Unter den borstigen Augenbrauen blitzten ein Paar glühende blutrünstige Augen. Sein Talar aus Tierfellen war
von oben bis unten mit Riemen, Amuletten, Ketten, Schellen, Stückchen Eisen und Kupfer behängt. In der rechten Hand hatte er seine mit Schellen verzierte Zaubertrommel, wie ein Tambourin, in der
linken einen abgespannten Bogen. Allmählich verlosch die Flamme. Er warf sich zur Erde, stützte die Stirn auf das obere Ende und lief immer schneller lange um den Bogen herum. Plötzlich blieb er
stehen, machte mit den Händen Bewegungen in der Luft, ergriff begeistert die Trommel, rührte sie nach einer Art von Melodie, sprang und verzückte seinen Körper seltsam. Besonders drehte sich sein
Kopf so schnell, dass er einer an einem Band geschleuderten Kugel glich. Indessen hatte er einige Pfeifen Tabak geraucht und zwischen jeder einen Schluck Branntwein getrunken. Plötzlich fiel er
starr zu Boden. Zwei Männer wetzten große Messer über ihn, er stieß sein Klagegestöhne aus und bewegte sich langsam und krampfhaft. Man stellte ihn hin, er stand wie bewusstlos und nur leicht
zitternd. Die Augen standen ihm wild und stier aus dem Kopf. Das Gesicht war über und über bedeckt mit Blut, welches unaufhörlich mit dem gewaltsamen Schweiß unter der Haut hervordrang. Endlich
schwang er, mit der rechten auf den Boden gestützt, das Tambourin in der linken rasch und klirrend um den Kopf und ließ es dann zur Erde sinken. Jetzt war er völlig begeistert. Er stand da
regungslos mit völlig leblosem Gesicht und Augen. Weder die Fragen, noch die ohne nachsinnen sogleich erfolgenden Antworten brachten die mindeste Veränderung in seinen erstarrten Zügen hervor. Er
beantwortete die Fragen, von denen er größtenteils keinen Begriff haben konnte, etwas im Orakelstil, aber mit einer Art von Sicherheit.
Matjuschkin fragte: "Wie lange wird unsere Reise währen?" Antwort: "Über drei Jahre." Werden wir viel ausrichten?" Antwort: "Mehr als man bei dir zu Hause erwartet." "Werden wir alle gesund
bleiben?" Antwort: "Alle außer dir; aber du wirst nicht krank sein." (Matjuschkin litt lange Zeit an einer Schnittwunde in den Daumen.) Frage: "Wie geht es Leutnant Anjou?" "Er ist drei
Tagesreisen von Bulun, wo er aus einem fürchterlichen Sturm auf der Lena mit Mühe gerettet ist." (Dies bestätigte sich.) Viele Antworten waren so dunkel und poetisch, dass kein Dragomann sie zu
übersetzen imstande war. Sie erklärten diese Darstellungsweise für Märchensprache. Nachdem die anderen Ratfragenden befriedigt waren, fiel der Schamane hin und blieb unter den heftigsten
Zuckungen und inneren Krämpfen eine Viertelstunde am Boden liegen. "Die Teufel ziehen aus", sagten die Tungusen und öffneten die Tür. Dann erwachte er wie aus einem tiefen Schlaf, sah alle
verwundert an und als Matjuschkin ihn um nähere Erläuterungen dessen bat, was er eben gesagt hatte, blickte er mit dem Ausdruck des Erstaunens auf ihn, als ob er so etwas nie vorher gehört habe.
Namentlich wunderte er sich wie die übrigen über die großen blauen Augen der Braut Matjuschkins, von denen er vorher gesprochen, da sie keine anderen als kleine schwarze sich denken können.
Am anderen Tage begleiteten die Tungusen Matjuschkin bis an die Lena. Der Schamane rupfte einige Haare aus der Mähne des Pferdes, hängte sie an einen Baum und sprach eine Beschwörungsformel, um
ihm die guten Geister günstig, die bösen unschädlich zu machen. Die Weiber fangen den Abschiedsgesang mit den Refrain: Evan, Evoan, Tajon.
An einer anderen Stelle setzte ein Schamane sich in Begeisterung. Die Tochter des Hauses, eine Jakutin, wurde blass und rot, endlich zeigte sich Blutschweiß und sie fiel bewusstlos zu Boden.
Matjuschkin befahl dem Schamanen, aufzuhören und da es nicht geschah, warf er ihn hinaus, der aber setzte seine Sprünge und Verzerrungen draußen im Schnee fort. Die Patientin lag starr, der
Unterleib schwoll an, sie bekam Krämpfe, schrie, rang die Hände, sprang und sang unverständliche Worte. Endlich sank sie in Schlaf, aus dem sie nach einer Stunde erwachte, ohne von dem
Vorgefallenen zu wissen. Der Vater erzählte, dass sie oft in solche Ekstase verfalle, auf Fragen über die Zukunft, entfernte, unbekannte antwortete. Auch rede sie in der ihr sonst unbekannten
lamutischen oder tungusischen Sprache und singe Lieder.
Besonderes Ansehen haben die Schamanen bei den Tschuktschen. 1814 brach unter ihnen und ihren Rentieren auf dem Jahrmarkt zu Ostrownoje eine Seuche aus. Die Schamanenversammlung erklärte, dass
den erzürnten Geistern der angesehene beliebte Häuptling Kotschen geopfert werden müsse. Da sie weder durch Versprechungen noch durch Drohungen und Misshandlungen sich irremachen ließen, stieß
Kotschens eigener Sohn auf des Vaters Befehl ihm den Dolch in die Brust.
Textquelle: Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde. Band 4. 1859, Göttingen.
Bildquellen: "Ivan at Home; or, Pictures of Russian life, etc." 1872, London
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